Vortrag "Die Rolle der polnisch-deutschen Zusammenarbeit bei der Neugestaltung der EU"
21.11.2024
Am 21. November hat der Geschäftsträger a.i Jan Tombiński einen Vortrag gehalten, im Rahmen der Vortragsreihe „Europa und die Zukunft des deutsch-polnischen Dialogs“ und in Zusammenarebeit mit dem Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, sowie mit dem Verein "Heidelberger Europagespräche".
„Die Rolle der polnisch-deutschen Zusammenarbeit bei der Neugestaltung der EU“
Heidelberg, 21. Oktober 2024
Ihre Magnifizenz, Prof. Dr. Frauke Melchior,
Geehrter Prof. Müller-Graff,
Prof. Klaus Ziemer, Frau Gabriela Skolaut von der „Initiative Partnerschaft mit Polen e.V.“ – vielen Dank für die Einladung zu dem heutigen Vortrag!
Liebe Studierende,
Meine verehrten Damen und Herren,
der Besuch bei Ihnen in Heidelberg findet drei Monate nach meinem Amtsantritt als Leiter der Botschaft der Republik Polen in Deutschland statt, also in der Anfangsphase meiner hiesigen diplomatischen Mission. Nachdem ich 1990 in den diplomatischen Dienst eingetreten war, führte mein Weg durch viele europäische Hauptstädte – aus welchen Gründen auch immer übte ich jedoch meine Tätigkeit bislang noch nie in Deutschland aus. Nun stehe ich vor Ihnen in dem Wissen, wie viel ich über die Besonderheiten der heutigen Bundesrepublik lernen muss, sowohl über ihre Stärken und ihre Schwächen als auch über ihre interne politische Dynamik.
Der unerwartet bald beginnende Wahlkampf wird meinen Lernprozess begünstigen. Denn die Erfahrung sagt mir, dass ein Wahlkampf die beste Gelegenheit bietet, ein Land kennenzulernen, weil alle vorhandenen Probleme öffentlich diskutiert werden.
Vor einem Jahr wurde Polen auf eine ähnliche Probe gestellt – und bestand sie mit einem angesichts der gegenwärtig dominierenden Stimmungen ungewöhnlich guten Ergebnis. Der Mut, Populismus mit sachlichen Argumenten zu konfrontieren, hat sich ausgezahlt: Die demokratischen Parteien der Mitte gewannen in Polen Überhand.
Polen hat damit bewiesen, dass es sich lohnt, wenn die Politik verbindet statt zu teilen, wenn Zuversicht über die Bedrohungen dominiert; wenn die Politiker eine zukunftsorientierte Führung übernehmen, statt provinziell und rückwärtsgewandt zu agieren. Die in Polen geweckte Hoffnung hat allerdings nur eine beschränkte Wirkung und man beobachtet an der Lage in anderen Ländern, wie zerbrechlich unsere Demokratien sind, wenn sie mit Demagogie, den Verlockungen des Autoritären und dem Bedürfnis nach einer flüchtigen Wirkmächtigkeit konfrontiert werden.
Die Geschichte Deutschlands und Italiens von vor hundert Jahren sollte uns vor einer „Flucht vor der Freiheit“ warnen, um Erich Fromm zu zitieren – vor einer scheinbaren Sicherheit, welche die politischen Anführer von heute durch illusorisch schnelle Lösungen komplexer Probleme versprechen.
Über „Wege in die Unfreiheit“ ist im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 viel geschrieben worden. Die damals wie heute formulierten Warnungen lassen die Wählerinnen und Wähler, wie man sieht, unbeeindruckt, weil sie nur die bereits Überzeugten erreichen und die immer fester sich abzeichnende Grenze zwischen den politischen Konfliktlagern in modernen Gesellschaften kaum zu überwinden vermögen – die Grenze zwischen denjenigen, die eine demokratische Organisation von Gesellschaften befürworten, und jenen, welche die Wirkmächtigkeit auf Kosten der Freiheit und der demokratischen Institutionen vorziehen.
Der zweite Weg scheint in den Gesellschaften des so genannten „Globalen Westens“, zu dem heute sowohl Polen als auch Deutschland gehören, eine immer zahlreichere Anhängerschaft zu finden. Dies wird immer wieder durch die nationalen Wahlergebnisse bestätigt. Viele Analysen deuten darauf hin, dass die autoritären Methoden eine wirksamere Antwort auf die zunehmende Angst vor einer ungewissen Zukunft darstellen.
Der bedeutende polnische Soziologe Zygmunt Baumann hat darüber bereits vor Jahren geschrieben, ähnlich wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk. Ihnen zufolge wird die Steuerung von Gesellschaften über die Angst als eine der stärksten, wenn nicht die stärkste menschliche Emotion, zu einer immer effektiveren Methode der Machtausübung.
Das Regieren durch Angst wird nicht nur von dem Gefühl einer ungewissen Zukunft gefördert, sondern eröffnet der Politik oder selbsternannten Volksanführern die Möglichkeit, Gründe für Sorgen und Befürchtungen zu kreieren, um dann Wege zu deren Bekämpfung vorzuschlagen. Die „Geopolitik der Emotionen“ begünstigt Bewegungen, die sich um eine charismatische Führung scharen, auf Kosten von politischen Parteien, die programmatisch ihre Ziele formulieren und sie offen ausdiskutieren.
Institutionen abschaffen, das Gesetz durch den Willen des Volkes als Souverän ersetzen, die öffentlichen Medien dem Willen der Machthabenden unterordnen, den Dialog durch Repressalien und Stigmatisierung jener ersetzen, deren Meinung von den aufgezwungenen Ansichten abweicht, polarisieren anstatt zu vereinen, politische Gegner zu Feinden erklären – all das sind Methoden, die unsere Demokratie aushöhlen.
Der polnische Lyriker Kornel Filipowicz schrieb im Gedicht Unfreiheit von 1984:
Die Freiheit
Wird uns nicht plötzlich
Weggenommen werden
Im totalitären Staat
Von Tag zu Tag
Von Dienstag auf Mittwoch
Wird man sie uns vorenthalten langsam
Stück für Stück abnehmen
(Manchmal sogar zurückgegeben
Aber immer weniger als abgenommen wurde)
Täglich ein bisschen
In unmerklichen Mengen
Bis wir eines Tages
Nach einigen Jahren
In der Unfreiheit erwachen
Aber das werden wir nicht wissen
Wir werden überzeugt sein
Dass es so sein soll
Weil es immer so war
Nach dem 11. September 2001 wurde viel über die Folgen des Verzichtes auf die Freiheit zugunsten der Sicherheit geschrieben. Das zunehmende Eindringen in die Privatsphäre wurde mit der Notwendigkeit begründet, uns vor Bedrohungen und Gegnern zu schützen, die den Raum der Freiheit nutzen würden. In der Regel wurde verkündet, dass die eingeführten Maßnahmen präventiv und vorübergehend seien. Selten, fast nie war das der Fall.
Wo es keine starken Institutionen zum Schutz der Demokratie gab, stand der Weg „in die Unfreiheit“ offen, und diejenigen, die mit Sicherheitsparolen an die Macht gelangt waren, hatten keine Absicht, darauf zu verzichten. Nicht selten mit dramatischen Folgen.
Warum lohnt es sich, gerade im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen darüber zu sprechen? Ich bin überzeugt, dass unsere beiden Länder einen gewissen Auftrag haben, Bedrohungen zu analysieren, vor ihnen zu warnen und Lösungen vorzuschlagen.
Vor einem Jahrhundert ließen sich die Deutschen durch das Versprechen einer besseren Welt verführen, die um den Preis einer inneren Freiheit und durch daraufolgende aggressive Handlungen nach außen erreicht werden sollte. Millionen deutscher Bürgerinnen und Bürgern ließen sich verführen und folgten Parolen, die heute banal und sinnlos erscheinen. Die Folge dieses Wahns, der ein vorübergehendes Gefühl von Über- und Allmacht vermittelte, war die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Das erste Opfer dieser Aggression war Polen.
Die Kriegsmaschinerie, einmal entfesselt, anvisierte immer neue Ziele und suchte zu überzeugen, dass eine viel bessere und gerechtere Zeit kommen würde, sobald diese erreicht seien.
Doch die Geschichte lehrt uns, dass es dafür kein Ende gibt und dass die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt genannten Ziele sich mit den Jahren als utopisch erweisen. So wurden diejenigen besiegt, die den globalen Konflikt entfesselt hatten, aber Millionen völlig unschuldiger Menschen hatten deswegen noch jahrzehntelang zu leiden.
Polen brauchte mehr als vierzig Jahre, um sich von den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu erholen. Zahlreiche Befreiungsversuche scheiterten. Doch endlich erteilten wir dem kommunistischen Totalitarismus unerwartet und ohne Blutvergießen eine Absage und taten es auf eine durchaus demokratische Art und Weise: am 4. Juni 1989 mit dem Stimmzettel.
Es ist immer wieder notwendig, an dieses Datum zu erinnern, das inzwischen vergessen zu sein scheint: Es verbindet nämlich symbolisch zwei sehr unterschiedliche historische Szenarien miteinander. Während wir an der Weichsel die Chance nutzten, zum ersten Mal seit 1939 wirksam unsere Stimmen abzugeben, kamen aus Peking Nachrichten über die brutale Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Der durch die Solidarność-Bewegung und die polnische Entscheidung für die Freiheit ausgelöste Wandel war eine Welle, die den Weg zum Fall der Berliner Mauer und zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete, wie auch zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Aufhebung der europäischen und weltweiten Nachkriegsteilungen. Dank den Parlamentswahlen in Polen – und ich sage dies als jemand, der an den Ereignissen von 1989 mit vollem Bewusstsein beteiligt war – eröffnete sich uns die Möglichkeit, in Europa den Raum der Demokratie, der Freiheit und der Entwicklung in einem bis dahin noch nie dagewesenen Ausmaß auszuweiten.
Verehrtes Publikum,
Das bedeutet nicht, dass plötzlich alle Probleme verschwunden sind und alles einfach geworden ist. Dennoch bot die von Robert Schuman vorgeschlagene Gemeinschaftsmethode viel bessere Instrumente dar, um auf Herausforderungen zu reagieren. Ich komme stets sehr gerne auf den Hinweis zurück, den Robert Schuman der ersten Europäischen Kommission gab: „Ihre Aufgabe ist es nicht, zu verhandeln, sondern Lösungen zu finden“.
Diese wenigen Worte fassen das wesentliche Prinzip zusammen, auf dem die Gründung der Europäischen Gemeinschaften basierte. Verhandeln bedeutet, den anderen zu überreden, damit er unseren Standpunkt oder unsere Vorgehensweise übernimmt; es bedeutet, Zugeständnisse zu erzwingen. Lösungen zu finden bedeutet dagegen, miteinander nach Antworten auf die gemeinsamen Herausforderungen zu suchen.
Wie kompliziert und zugleich wie faszinierend diese Aufgabe sein kann, davon durfte ich mich jeden Tag überzeugen, als ich Polen in Brüssel bei der Europäischen Union vertrat. Nach einiger Zeit kennt jeder, der im Rat der Europäischen Union am Tisch sitzt, sehr genau die Stärken, aber auch die Beschränkungen und Befindlichkeiten der anderen Länder. Von der Fähigkeit, sich über nationale partikuläre Interessen und Aussichten auf kurzfristige Wahlerfolge hinwegzusetzen, hängt der Zusammenhalt der gesamten europäischen Konstruktion ab. Das institutionell und rechtlich eingebettete weitsichtige Konzept, wie es in Europa gelungen ist, findet in der modernen Geschichte keine Parallele.
Es genügt, die Effizienz der Europäischen Union mit der der Vereinten Nationen zu vergleichen, um den Unterschied zu verstehen. In Europa führt jede größere Krise zu einer stärkeren Integration. Bei den Vereinten Nationen offenbaren die aufeinanderfolgenden Krisen immer neue institutionelle Schwächen und die Ohnmacht gegenüber denjenigen, die sich nicht an ihre Regeln halten.
Manchmal nützt es, sich die Vorteile vor Augen zu führen, die uns die europäische Gemeinschaft tagtäglich bietet, und sich zu vergegenwärtigen, was es kosten würde, wenn es die EU nicht gäbe.
Die fortschreitende europäische Integration stößt jedoch in vielen Ländern auf Widerstand. Er rührt in der Regel von der Notwendigkeit her, auf unmittelbare Herausforderungen zu reagieren. In einer Gemeinschaft von fast dreißig Ländern braucht es viel Zeit, bis man sich auf Maßnahmen einigt, die gesundheitliche Gefahren, Bedrohungen durch den Klimawandel, durch die Migration oder schließlich durch direkte militärische Angriffe betreffen. Aus der Sicht ordentlicher Menschen wird aber dadurch der kausale Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer Krise und den Abhilfe- bzw. langfristigen Präventivmaßnahmen zerrissen.
Aus dem Grund beobachten wir in Europa eine wachsende Tendenz, die Gemeinschaftsmethode abzulehnen und zum Handeln auf nationaler Ebene zurückzukehren, das angeblich effektiver sei. Begriffe wie „souveräne Demokratie“ dienen dazu, sich von den Verpflichtungen des Völkerrechts loszusagen und die Bevölkerungen davon zu überzeugen, dass auf nationaler Ebene bessere und schnellere Antworten getroffen würden.
Auch Polen war von solchen Tendenzen nicht frei. Vor einem Jahr aber, dank einer außerordentlichen Mobilisierung der Wählerschaft entschieden wir uns, den Weg der europäischen Demokratien mitzugehen. Die Werte, die zur Zeit der Solidarność-Bewegung und bei den Wahlen von 1989 unser Manifest der Freiheit bedeutet hatten, wurden noch einmal bestätigt.
Der europapolitische Rahmen der deutsch-polnischen Beziehungen muss zunehmend in einen breiteren internationalen Kontext gestellt werden. Zusätzlich zu den internen Krisen in der Union gibt es seit etwa zehn Jahren einen sehr starken Druck von außen, der auf den Zerfall der Union und die Rückkehr zur Konstellation von Großmächten bzw. machtbasierten Einflusssphären ausgerichtet ist.
Seit Jahren verfolge ich die russische Politik, und der Wunsch Russlands, das Werk der europäischen Integration zu zerstören, kommt für mich alles andere als überraschend. Viele russische Politiker, den Staatspräsidenten mit eingeschlossen, haben sich zu diesem Thema direkt geäußert und tun das auch weiterhin. Für sie ist das bloße Weiterbestehen der Europäischen Union zu einer existenziellen Herausforderung für das autoritäre System geworden, das mit wenigen Unterbrechungen seit Jahrhunderten in Russland Bestand hat.
Aus Sicht der russischen Machthabenden widerspricht die Fähigkeit von Staaten und Völkern, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten und eine kollegiale Souveränität zu praktizieren, dem Verständnis von Macht als einer uneingeschränkten Obrigkeit, die Entscheidungen trifft, denen sich die Menschen wie Objekte zu unterwerfen haben. Die so genannte „Vertikalität der Macht“, die die Nationen der sowjetischen bzw. russischen Einflusszone seit Generationen kennen, ist unvereinbar mit dem „horizontalen Regieren“, welches auf Partnerschaft und Gleichheit der Akteure innerhalb der Europäischen Union beruht.
Als ich die Europäische Union zwischen 2012 und 2016 in Kiew vertrat, konnte ich dies aus nächster Nähe beobachten. Damals gab es einen anhaltenden Streit zwischen den Russland zugewandten Kräften und denjenigen, die auf Freiheit und gesellschaftliche Selbstbestimmung pochten. Was in den russischen Kommentaren durchschimmerte, war eine völlige Verständnislosigkeit angesichts der Tatsache, dass die ukrainische Bevölkerung, die mehrere Jahrzehnte lang in der sowjetischen Wirklichkeit gelebt hatte, nun das „Chaos der demoralisierten westlichen Demokratien“ der Berechenbarkeit und Wirkmächtigkeit des Kremls vorzog. Diese Kommentare und Einschätzungen hatten einen doppelten Boden: Dieser bestand in der Befürchtung, dass das Beispiel der Ukraine auch die multinationale Bevölkerung Russlands dazu ermutigen würde, ihrerseits die eigenen Rechte geltend machen und sich an der Machtausübung durch demokratisch gewählte Institutionen beteiligen zu wollen.
Dieselbe Angst war es, die Russland zu dem bewaffneten Einmarsch auf der Halbinsel Krim und in den östlichen Regionen der Ukraine im Jahr 2014 bewegte. Dieselbe Angst vor dem Verlust der imperiale Herrschaft über das eigene Volk liegt dem Drama der nun 1000 Tage andauernden verheerenden russischen Aggression gegen die Ukraine zugrunde. Der Aufstand der ukrainischen Bevölkerung gegen das von Moskau aufgezwungene System brachte das Bild von Allmacht und Unerschütterlichkeit des Regimes ins Wanken.
Die rücksichtslose Beseitigung jeglicher inländischer Opposition soll es wieder festigen, frei nach dem Motto: „Schlagt auf die Eigenen ein, damit die Fremden sich fürchten“. Wie weit ist dieses Denken vom westlichen Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft entfernt!
Die Verteidigung der ukrainischen Souveränität wird vor diesem Hintergrund nicht allein zu einer völkerrechtlichen Pflicht und zu einem Gebot des Anstands. Sie bedeutet vielmehr, für Demokratie, Freiheit und grundlegende Regeln der Koexistenz zwischen Staaten und Völkern einzutreten. Wenn wir zulassen, dass die Gewalt über das Recht triumphiert, wird dies katastrophale Folgen für alle unsere Gesellschaften nach sich ziehen.
Polen steht der Ukraine stets zur Seite und unterstützt sie mit aller Kraft, sowohl durch die staatlichen Institutionen als auch durch das Handeln privater Personen. Kürzlich veröffentlichte Daten zeigen, dass die militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe für die Ukraine seit Februar 2022 insgesamt fast 5 % des polnischen BIP beträgt. Auffallend ist dabei der Umstand, dass unter den zehn EU-Ländern, die im Verhältnis zu ihrem Wohlstand die Ukraine am umfangreichsten unterstützen, nur Dänemark zu den wohlhabendsten EU-Staaten zählt.
Die schicksalhafte Nähe zur Ukraine rührt nicht nur von der jahrhundertelangen gemeinsamen Staatlichkeit der polnischen und der ukrainischen Bevölkerung her, ungeachtet dazugehöriger prägender schmerzhafter Episoden. Mit Erstaunen höre ich in verschiedenen politischen Kreisen unserer europäischen Partnerländer wiederholt Behauptungen von angeblichen ethnischen Rechten Russlands auf ukrainische Gebiete, zumindest auf deren östliche Teile. Dabei hatte sich Russland diese Gebiete im Rahmen seiner kolonialen Eroberungen vom siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert angeeignet. Die Unkenntnis der komplexen Geschichte des europäischen Ostens, seines Mosaiks aus Nationalitäten und Religionen, führt zu falschen politischen Einschätzungen. Viele Nationen, darunter auch die polnische, bekamen das immer wieder schmerzhaft zu spüren.
Das Bestehen der Europäischen Union und die Anziehungskraft, die sie auf weitere beitrittswillige Länder ausübt, stellt nicht nur für Russland eine existenzielle Herausforderung dar, sondern auch für manche Kräfte in den Vereinigten Staaten.
Als Amerika unmittelbar nach dem Krieg den Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas vorschlug und die Schaffung von Mechanismen für eine Zusammenarbeit der begünstigten Länder zu dessen Bedingung machte, hätte es sich nicht träumen lassen, dass damit ein so großes Werk in Gang gesetzt wird. Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass auf Grundlage des aus heutiger Sicht kleinen Anfangskapitals (das BIP der USA betrug damals nur das Dreieinhalbfache des BIP der drei Marshallplan-Länder Deutschland, Frankreich und Italien zusammen) –ein starker Organismus heranwuchs, der nicht mehr nur ein Partner für die USA ist, sondern ihr ernsthafter Konkurrent.
Europas Wirtschaftswachstum profitierte von Amerikas Schutzschirm. Diese Zeit neigt sich dem Ende zu, da Amerika mit seinen eigenen Problemen konfrontiert ist und von seinen europäischen Partnern mehr Anstrengungen erwartet, um den europäischen Raum der Demokratie und Freiheit zu schützen.
Für Deutschland und Polen hat dies schwerwiegende Folgen. Polen spielt eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung von Hilfe für die Ukraine, aber auch als Dreh- und Angelpunkt zwischen dem Ostseeraum und Südosteuropa. Deutschland ist das Bindeglied zwischen dem Westen und dem Osten, aber auch zwischen dem Süden und dem Norden. Wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte Europas hängen dessen unmittelbare Zukunft und Sicherheit von unseren beiden Ländern ab. Nach dem EU-Austritt Großbritanniens ist die Zukunft der transatlantischen Beziehungen von der Fähigkeit Berlins und Warschaus bedingt, die EU anzuführen.
Ungeachtet der Ansichten der kommenden US-Präsidenten bleibt Europa der wichtigste wirtschaftliche und strategische Partner Washingtons. Die Tendenz zum Teilen und Herrschen kehrt aber mit der republikanischen Regierung bestimmt zurück, und es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, der Versuchung nicht zu erliegen, die jeweiligen nationalen Beziehungen zu den USA auf Kosten der Zusammenarbeit auf unserem Kontinent aufzubauen.
Geehrte Damen und Herren,
alle Argumente sprechen für eine Rückbesinnung auf das Konzept einer polnisch-deutschen Interessengemeinschaft, das bis vor kurzem zwar noch als Axiom gehandelt, streckenweise aber doch aufgegeben wurde. Wahrscheinlich erinnert man sich nicht mehr daran, dass Krzysztof Skubiszewski, Polens Außenminister nach dem Umbruch von 1989, als erster diesen Begriff verwendete. In der damaligen Realität wusste er schon, dass dadurch Polens Weg nach Westen besiegelt sein wird.
Heute reagiert die polnisch-deutsche Interessengemeinschaft auf Bedürfnisse einer anderen Art. In den letzten dreißig Jahren hat Polen seine Hausaufgaben gemacht, die polnische Wirtschaft hat eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Damit ist nicht gemeint, dass sie stärker sei als die deutsche, sondern dass sie von ihrer nachholenden Rolle als Auftragnehmerin zu der einer gleichberechtigten Partnerin aufgestiegen ist.
Wahrscheinlich ist nicht jedem bewusst, dass Polen zu den fünf wichtigsten Wirtschaftspartnern Deutschlands gehört und Länder wie Italien oder das Vereinigte Königreich, und neuerdings sogar China als Abnehmer deutscher Produkte überholt hat. Wir beobachten nicht zuletzt einen Technologietransfer von Polen nach Deutschland, vor allem im Bereich der Finanz- und Digitaldienstleistungen, was mir eine besondere Freude bereitet.
Deutschland ist für Polen seit Jahren der wichtigste Abnehmer von Waren, die Dynamik der polnischen Wirtschaft hängt also von der guten Verfassung der deutschen Wirtschaft ab. Daher verfolgen wir die deutschen Wirtschaftsberichte sehr aufmerksam und nehmen die negativen Trends mit Sorge zur Kenntnis.
Die seit Jahren vorherrschende Überzeugung, dass das Funktionieren der Europäischen Union vom Zustand der deutsch-französischen Beziehungen abhänge, wird zunehmend durch die Realität revidiert. Damit die EU nicht vom richtigen Weg abkommt, muss heute eine viel breitere Gruppe von Staaten zusammenarbeiten, und Polen wird hierbei zu einem unentbehrlichen Mitstreiter. Die Bedrohungen aus dem Osten heben diese Rolle Polens noch weiter hervor.
In seiner Strategie orientiert sich Polen jetzt zunehmend nach Norden und auf die Zusammenarbeit im Ostseeraum. Dort herrscht, insbesondere nach dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands, mehr Einigkeit als in der Visegrad-Gruppe. Ministerpräsident Donald Tusk wird in den kommenden Tagen Gast beim Gipfel der Nordisch-Baltischen Acht (NB8) sein, was beweist, dass auch diese Länder Polen für einen bedeutenden Akteur in der Region halten.
Anfang 2025 wird Polen für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen und damit mehr Verantwortung für die Gemeinschaft tragen. Die polnische Präsidentschaft fällt mit dem Beginn der Arbeit der neuen Europäischen Kommission zusammen, so dass in dieser Zeit die Weichen für die nächsten Jahre gestellt werden.
Aus der Sicht Polens wird die umfassend verstandene Sicherheit als höchste Priorität gelten. Zuallererst die äußere und militärische Sicherheit, zu der auch der Schutzschild Ost gehört, d.h. die Entwicklung von Verteidigungskapazitäten an der Ostflanke der Nato und der EU. Heute trägt Polen hierbei die Last des Aufbaus, aber wir sind uns der Bedeutung der Initiative für den Schutz der Außengrenze der Europäischen Union bewusst und rechnen mit dem Engagement unserer Partner.
Gemäß dem alten Grundsatz si vis pacem para bellum erfordert die Sicherheit erhebliche Ressourcen. Bei den Vorbereitungen des nächsten mehrjährigen Haushalts der Union werden wir uns bemühen, angemessene Mittel für die Zusammenarbeit der Verteidigungsindustrien bereitzustellen.
Ich weiß, wie viel Arbeit wir leisten müssen, um unsere Partner in Berlin davon zu überzeugen, dass auch die deutsche Sicherheit durch Russlands Agieren bedroht ist. Mehr Mittel für Verteidigungszwecke zu verwenden, kann einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen, wie Beispiele aus der Vergangenheit zeigen. Polen wird in dem ausgehenden Jahr 4,2 Prozent des BIP für Sicherheit und Verteidigung ausgegeben, und die Ausgaben der Folgejahre werden noch darüber liegen. Es ist besser, heute die richtigen Investitionen zu tätigen, als gezwungen zu sein, im Falle einer direkten Notsituation einige Zig Prozent des BIP für die Verteidigung und den Schutz des Landes vor Zerstörung auszugeben. Wir können nicht gleichgültig zusehen, wenn Russland beschließt, mehr als 40 Prozent seiner Haushaltsausgaben für die Armee und die Rüstung aufzuwenden. Das resultiert aus bestimmten Absichten und bedeutet keine Vorbereitung auf eine friedliche Koexistenz.
Eine weitere Priorität unseres EU-Vorsitzes stellt die Energie- versorgungssicherheit der Union und ihre dauerhafte Unabhängigkeit von externen Quellen dar. Dies geht mit der industriellen Sicherheit der Union einher. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen, möchten wir auf die bereits im Jahr 2011 vorgeschlagenen Deregulierungslösungen verweisen, wodurch die bürokratische Belastung unserer Unternehmen verringert werden soll.
Dies wird sich in den Vorbereitungen für den mehrjährigen Finanzrahmen der EU widerspiegeln, bei denen zu entscheiden ist, ob über mehr Finanzinstrumente von Brüssel aus oder in den einzelnen Regionen verfügt werden soll.
Die Pandemie hat das Ausmaß der Abhängigkeit der Union von den Lieferanten wichtiger Arzneimittel gezeigt, so dass die Gesundheitssicherheit in der Gemeinschaft ebenfalls auf der Tagesordnung stehen wird.
Heute muss niemand mehr von der Bedeutung der Informationssicherheit und den Gefahren der Desinformation überzeugt werden. Ich hoffe, dass aus der Beobachtung der Einflussnahme feindseliger Medien auf Einstellungen und Wahlpräferenzen der Bevölkerung Lehren für den gerade angelaufenen deutschen Wahlkampf gezogen werden.
Weitere Ziele für den Ratsvorsitz beziehen sich auf die innere und zivile Sicherheit. Dazu gehört die Abwehr von Bedrohungen, von denen die Leiter der Nachrichtendienste vor einigen Wochen im Bundestag berichtet haben. Ebenfalls wichtig ist die Stärkung der Kapazitäten zur Bewältigung der immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen. Im September leistete Deutschland wertvolle Hilfe für Polen bei der Bewältigung der Folgen des Hochwassers an der Oder, doch jeden Tag erreichen uns Nachrichten über noch dramatischere Katastrophen in Italien oder Spanien.
Verehrte Damen und Herren,
mit tiefer Besorgnis führe ich hier die Ziele der polnischen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union auf. Anstatt neue Horizonte zu eröffnen und den Bürgern Hoffnung auf eine sichere und bessere Zukunft zu geben, müssen wir uns mit Gefahren und Methoden zu ihrer Bekämpfung befassen. In dieser Frage gibt es anscheinend keine tiefen Gräben zwischen den Mitgliedstaaten, sodass alle Aufmerksamkeit auf die Suche nach Lösungen gerichtet sein muss. Ganz im Sinne des obererwähnten Ratschlags von Schuman.
Neben den internen Aufgaben werden auch internationale Fragen ganz oben auf der Tagesordnung. Ab Januar heißt unser Partner in Washington die Regierung von Donald Trump, und es müssen Modi der Zusammenarbeit etabliert werden. Unsere Außenministern diskutierten darüber bereits diese Woche in Warschau.
Vor dem Hintergrund der heutigen Herausforderungen behält die Union ihre Attraktivität für weitere Beitrittsländer. Die Versäumnisse der Erweiterungspolitik gegenüber den westlichen Balkanstaaten müssen nachgeholt werden, denn die anhaltende Unentschlossenheit der EU führt nicht nur zu einem Verlust unserer Glaubwürdigkeit und zu steigenden Kosten, sondern öffnet auch Tür und Tor für EU-feindliche Aktionen.
Die Unterstützung der Ukraine wird eine der wichtigsten Aufgaben der Union bleiben. Trotz des Dramas der russischen Aggression hat die Ukraine erhebliche Fortschritte bei der Vorbereitung auf die Beitrittsverhandlungen gemacht, und wir hoffen, die ersten Verhandlungskapitel in den kommenden Monaten eröffnen zu können – sowohl mit der Ukraine als auch mit der Republik Moldau. Für beide Länder ist die Union nach wie vor ein Anker der Hoffnung und des Beistands angesichts der russischen Aggression.
Bei der Leitung des Rates der Europäischen Union muss sich jedes Land darum bemühen, den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu wahren. Wenn ich die heutigen Umstände mit denen von 2011 vergleiche, als ich die Arbeit des Ausschusses der Hohen Vertreter, genannt Coreper, anführte, sehe ich, dass auf meine derzeitige Nachfolgerin in Brüssel eine viel schwierigere Aufgabe zukommt. Wir haben in der EU leider Partner, die nicht zögern, die Einheit der Gemeinschaft von innen heraus zu untergraben und den Interessen der erklärten Gegner der Union das Wort zu reden.
Polen und Deutschland haben auf der EU-Arena eine gewaltige Aufgabe vor sich, und es bedarf eines neuen Impulses zwischen unseren Ländern, um sie gut zu bewältigen. Dafür brauchen wir engagierte Menschen vom Format der großen Akteure der deutsch-polnischen Versöhnung aus den neunziger Jahren, ob sie Tadeusz Mazowiecki, Władysław Bartoszewski, Krzysztof Skubiszewski, Hans Dietrich Genscher, Helmut Kohl oder Horst Teltschik hießen; dafür brauchen wir engagierte geistliche und gesellschaftliche Akteure, wie es sie damals gab. Wir verfügen über eine reiche Infrastruktur von Organisationen, Stiftungen und Vereinen, doch unter den führenden Politikern und Politikerinnen auf beiden Seiten gibt es kaum jemand, der die bilateralen Beziehungen zu seiner politischen Aufgabe macht.
Inzwischen gibt es Tausende von Menschen, die auf regionaler Ebene, in der Kultur, der Wissenschaft oder der Wirtschaft tagtäglich Zusammenarbeit praktizieren. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihr Engagement für unsere Gesellschaften zu würdigen und sichtbar zu machen. Im einundzwanzigsten Jahrhundert ist die professionelle Diplomatie nicht die einzige und bestimmt keine ausreichende Brücke zwischen den Ländern. Um aus der „Banalität des Normalen“, wie ich es in einem Interview nannte, auszubrechen, bedarf es der Bemühungen sehr unterschiedlicher Gruppierungen und Personen.
Ich hoffe zudem, dass nach Jahren der Versäumnisse auf deutscher Seite endlich Entscheidungen getroffen werden, welche ein gebührendes Gedenken an die polnischen Opfer des Weltkrieges 1939-1945 ermöglichen. Wir warten auf Beschlüsse des Bundestages zum Deutsch-Polnischen Haus, das ein Ort des Gedenkens, der Begegnung und der Diskussion werden soll. Diese längst fällige Entscheidungen sollen Hindernisse aus dem Weg zur vertieften deutsch-polnischen Verständigung beseitigen.
Sehr geehrte Damen und Herren
Erlauben Sie mir bitte abschließend noch einige Bemerkungen zu den Gefahren, die von der seit mehr als zehn Jahren andauernden russischen Aggression gegen die Ukraine ausgehen. Nicht umsonst spreche ich dabei von zehn Jahren, denn sie begann 2014 mit der direkten Verletzung der Souveränität der Ukraine und mit der illegalen Annexion der Krim sowie einiger Regionen der Ostukraine. Das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion der Welt auf die damaligen Handlungen hat Putin und Russland in der Überzeugung bestärkt, ihre Aggression fortsetzen zu können.
Seit Februar 2022 sind wir bestürzt über einen Krieg, wie es ihn in Europa seit 1945 nicht mehr gegeben hat, über Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, über unvorstellbares menschliches Leid, die Zerstörung von Städten und Infrastrukturen. Nach fast drei Jahren sind wir heute weniger mitfühlend, weil wir uns an die Nachrichten gewöhnt haben und gleichgültig geworden sind. Hinzu kommen Bilder anderer tragischer Geschehnisse, die in unserem Bewusstsein die Tragödie der Ukraine und ihrer Menschen verdecken.
Die aktuelle Kriegsepisode begann mit einem im Dezember 2021 vorgelegten Ultimatum. Gefordert wurden Annullierung von Veränderungen, die sich in Europa seit 1997 vollzogen hatten, Reduzierung der Nato-Infrastruktur auf den Stand von vor der Erweiterung des Bündnisses sowie Berücksichtigung nicht näher spezifizierter russischer Sicherheitsbedürfnisse.
Die Absurdität eines an Staaten, die Russland nie überfielen und auch keine Absicht hatten, dies je zu tun, gerichteten Ultimatums ist denjenigen entgangen, die in den letzten Jahrzehnten eine Reihe feindlicher, jeder völkerrechtlichen Grundlage entbehrender Handlungen Russlands gegenüber Georgien, Armenien, der Republik Moldau oder der Ukraine ohne Reaktion gelassen hatten. Als hätte man stillschweigend anerkannt, dass Russland in den internationalen Beziehungen außerhalb des Gesetzes stehe und auf einer anderen Rechtsgrundlage als alle anderen Staaten handeln dürfe.
Dennoch lohnt es sich, an das Ultimatum zu erinnern, denn es formuliert Kriegsziele. Es handelt nicht von der Ukraine, sondern von Infragestellung der internationalen Ordnung, welche die Sicherheit und Stabilität unserer Länder gewährleistet. Folglich betrifft uns der Krieg gegen die Ukraine direkt und er wurde Polen, Deutschland und allen Staaten erklärt, die in den internationalen Beziehungen für die Überlegenheit des Rechts gegenüber der Gewalt, für die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität stehen.
In seiner Rede zur Eröffnung einer Ausstellung über Zar Peter den Großen in St. Petersburg im Juni 2022 sagte der russische Präsident mehr oder weniger folgende Worte: „Als Peter der Große den Bau der Hauptstadt an dieser Stelle anordnete, hielt niemand dieses Gebiet für einen Teil des russischen Reiches. Damit das anerkannt wurde, führte er einundzwanzig Jahre lang einen Krieg. Unsere derzeitigen Ziele in der Ukraine sehen ähnlich aus.“ Wir sollten diese Worte ernst nehmen und mit keinem schnellen Ende des Krieges rechnen. Bei dem jüngsten BRICS-Treffen in Kasan hat sich Putin im Übrigen in ähnlichem Sinne geäußert, als er eine Änderung der Weltordnung forderte. Die alternative Ordnung, die ihm vorschwebt, würden Autokraten diktieren, die sich immer häufiger an Russland orientieren, weil es offensichtlich ungestraft seinen Willen durchzusetzen weiß.
Wenn ich von der Ermüdung unserer Gesellschaften durch den Krieg und seine Folgen höre, denke ich an die Ukraine, die ich seit Februar 2022 mehrmals besuchte, an Freunde aus Odessa, Lemberg, Kiew, Lutsk, an Geflüchtete aus Donezk, Mariupol oder der Krim. Sie sind es, die das Recht haben, müde zu sein – müde des Krieges und unseres Unverständnisses für den existenziellen Ernst und Charakter dieser Konfrontation. Wenn man an sie denkt, fühlt man sich an eine alte Maxime erinnert: „Die kleinen Ungerechtigkeiten schreien zum Himmel, die großen sind stumm vor Entsetzen“.
Die Zukunft Europas hängt von seiner Haltung gegenüber der russischen Aggression und ihren Folgen ab. Eine Befriedigung Russlands auf Kosten der Ukraine führt zu keinem Frieden. In dieser Hinsicht sehe ich eine wichtige Rolle für Deutschland, das aufgrund von Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nun unter Beweis stellen kann, dass es weiß, wie gefährlich die Beschwichtigungsversuche gegenüber einem Aggressor sein können.
Während die Ziele Moskaus klar formuliert sind, jonglieren wir mit Worten. Einmal heißt es, dass unser Ziel darin bestehe, der Ukraine zu helfen, solange sie es braucht; ein anderes Mal, dass wir die Niederlage der Ukraine verhindern möchten; dann wieder, dass es darum gehe, den Sieg Russlands zu verhindern, oder doch um den Frieden um jeden Preis. Unsere Appelle richten sich in erster Linie an Kiew, an die Opfer, weil dies einfacher ist, als in der Konfrontation mit Russland als Aggressor die Initiative zu ergreifen.
Entschieden und mit allen Konsequenzen an der Seite des Opfers zu stehen, sollte aber unsere moralische und politische Pflicht sein.
Ich sage dies, am Ende meines Vortrags angelangt, schweren Herzens. Denn ich denke an die Lehren einiger der herausragenden Studierenden und Lehrenden dieser ehrwürdigen Universität wie Karl Jaspers und Hannah Arendt, die so viele Abhandlungen der Moralphilosophie und der politischen Ethik widmeten. Aber ich sage es aus einem tiefen inneren Bedürfnis heraus und lasse mich von den Worten Dieter Bonhoeffers leiten: „Nicht zu sprechen ist sprechen. Nicht zu handeln ist handeln“.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.