Ministerpräsident Morawiecki in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die EU reagiert sich gern an Polen und Ungarn ab“.
03.12.2020
Herr Ministerpräsident, der aktuelle Konflikt in der EU könnte unter dem Titel einer beliebten polnischen Komödie stehen: „Geld ist nicht alles.“ Für welche Werte sind Polen und Ungarn bereit, EU-Milliarden zu riskieren und andere EU-Länder gegen sich aufzubringen?
Ich würde umgekehrt fragen: Für welche Werte führen die EU-Kommision und das Parlament eine Situation herbei, in der die Grundsätze der Europäischen Verträge umgangen werden können? Das ist in etwa so, als ob plötzlich deutsche Gesetze über das Grundgesetz gestellt würden.
Der Stein des Anstoßes für Sie ist laut EU-Beschlusslage ein geplantes System der „Konditionalität zum Schutz des EU-Haushalts“. Brüssel will damit die Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in Polen und Ungarn schützen. Was soll daran schlecht sein?
Unsere Hauptsorge ist, dass dieser Mechanismus sehr willkürlich und aus politischen Motiven eingesetzt werden kann. Heute gefällt jemandem die polnische Regierung nicht, dann stellen wir sie an den Pranger. Morgen kann es die Regierung Italiens oder Portugals sein, dann nehmen wir ihr die Mittel weg. Das ist paradox: Dieser Mechanismus umgeht die Verträge. Er soll angeblich die Rechtsstaatlichkeit sichern und ist selbst ein fundamentaler Verstoß gegen diese.
Der frühere Warschauer Bürgermeister, der Liberale Paweł Piskorski, kritisiert den Mechanismus als Revolution durch die Hintertür, welche die Macht in der EU stark zentralisieren werde. Man könne damit Börsenturbulenzen, einen Investitionsstopp, eine tiefe Krise in einem Land herbeiführen. Sollten eines Tages Personen vom Schlage Marine Le Pens in der EU in der Mehrheit sein, werde das vollends gefährlich. Teilen Sie diese Ansicht?
Der Prozess ist aus vielen Gründen gefährlich. Das haben auch schon der Juristische Dienst der EU und der Europäische Rechnungshof festgestellt: Der Mechanismus schafft die Gefahr von Rechtsunsicherheit. Ein kluges Recht muss universal sein, nicht partikular. Dieser Mechanismus ist ein Ausdruck von Partikularismus. Er kann missbraucht werden. Jemand kann ihn mit fatalen Folgen für die EU einsetzen. Wenn dieses Tor einmal geöffnet ist, wird es niemand mehr schließen können.
Ihr Kollege in Ungarn, Victor Orbán, und Sie haben vor 1989 gegen die Diktatur gekämpft, Sie selbst sind von der Staatssicherheit körperlich misshandelt worden. Ihr Traum war damals, dass die sowjetischen Besatzer abziehen und Ihre Länder in das vereinte Europa hineinkommen.
So ist es. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass der Eiserne Vorhang fallen würde. Aber die Hartnäckigkeit der polnischen Bewegung „Solidarność“ und die konsequente Politik Amerikas haben zum Untergang der Sowjetunion geführt. Danach haben wir am Aufbau eines freien, starken und vereinten Europas mitgewirkt. Aber unsere Verbündeten haben manchmal wenig Verständnis für unsere Geschichte, für unseren schwierigen Weg. Der Ministerpräsident von Slowenien hat das dieser Tage in seinem Brief an die EU-Regierungschefs treffend beschrieben.
Die Vereinigung Europas kam 2004 und hat vielen Ländern wirtschaftlich sehr geholfen. Aber dann scheint etwas schiefgegangen zu sein. Wann war das und was war es?
Das sehen wir nicht so. Das war eine Win-win-Situation. In Polen sehen alle, welcher große Fortschritt sich hier seit 2004 abgespielt hat. Auch Westeuropa hat riesigen Nutzen aus der EU-Erweiterung gezogen. Gerade deshalb fühlen wir uns verantwortlich für die Zukunft der EU.
Doch es knirscht zwischen den zwei Teilen Europas. Hat das ähnliche Ursachen wie das Knirschen zwischen Ost- und Westdeutschen?
Deutschlands Nachkriegsgeschichte ist von der Teilung geprägt. Gerade deshalb können die Deutschen, die wissen, dass das das „Erbe des Kommunismus“ ist, die Länder im Osten besser verstehen. Jedes Volk ist anders, in vielerlei Hinsicht. Entscheidend sind gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit. Wir sind ein Europa der Vaterländer, und so soll es bleiben. Ich glaube nicht, dass eine Transferunion riesigen Ausmaßes für die Mehrheit der EU-Länder akzeptabel wäre.
In Polen hört man: Der Westen leuchtet nicht mehr, wie noch vor 1989. Er ist von Krisen geschüttelt und hat seinen Kompass verloren. Ist das auch Ihr Eindruck?
Die EU wirkt wie eine Ehe in der Krise. Sie hat die Finanzkrise hinter sich, den Brexit, sie erlebt wachsende Ungleichheiten, was die Bundesbank sorgfältig beobachtet. Und sie reagiert sich bei Problemen gern an Polen oder Ungarn ab. Es ist höchste Zeit für eine Gewissenserforschung: Was ist falsch gelaufen? Hat zum Beispiel der Euro nicht zu immer tieferen Differenzen geführt? Was hat er Italien gebracht, das seit mehr als zwanzig Jahren in der Stagnation steckt?
Aus Italien kommen Appelle, dem hochverschuldeten Land seine Schulden zu erlassen. Würden Sie das unterstützen?
Diese Appelle betreffen wohl vor allem coronabedingte Schulden. Ich würde so etwas nicht von vornherein ablehnen, denn dieser „schwarze Schwan“ des Virus und die unerwarteten Mehrausgaben sind nicht repräsentativ für die Lage eines Landes. Um aus dieser beispiellosen Krise herauszukommen, wäre es auch gut, ideologisch motivierte Angriffe auf die Souveränität einzelner Länder unter dem Deckmantel der „Konditionalität“ der EU-Mittel zu den Akten zu legen und schnell zum Aufbauprogramm überzugehen.
Sie haben das Zusammenwachsen Europas, etwa als Chef einer Großbank in Polen, mitgestaltet. Wann hat bei Ihnen persönlich die EU-Skepsis begonnen?
Der gemeinsame Markt ist ein riesiger Wert. Ganz bestimmt für Deutschland, ganz bestimmt für Polen. Das ist die Hauptleistung des vereinten Europas. Und auf diesem Feld gibt es noch viel zu tun. Aber wir in Polen wissen auch, was eine Ordnung bedeutet, die von irgendeiner Zentrale aufgezwungen wird. So sah das sowjetische System aus: Ein fernes Zentralkomitee, eine fiktive Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der „Partnerländer“ bei tatsächlicher Abhängigkeit, Ausbeutung und Neokolonialismus. Eine Scheindemokratie, in der das Volk nicht im Einklang mit seinen Werten leben kann. Das ist nur ein Memento aus glücklicherweise vergangenen Zeiten. Aber man sollte daraus lernen.
Wer sind, außer Ungarn, Ihre Verbündeten in der jetzigen Abwehrschlacht?
Eine Schlacht führen wir gegen die Pandemie. Die Diskussion über den umstrittenen Mechanismus in der EU ist schwierig. Umso schwieriger und umso wichtiger, als ihr Ausgang beeinflussen wird, in welche Richtung sich die EU weiter entwickelt. Wir werden das Europa der Vaterländer schützen – vor den kühnen Ideen der Integratoren, die nach dem Motto „one size fits all“ handeln.
Mehrere Minister in Ihrer Regierung haben von einem „Kulturkrieg“ gesprochen, der heute Europa spaltet. Dabei geht es um die Themen Migration, innere Sicherheit, die Definition der Familie, die Rolle von Kirche und Laizismus. Gelten die polnischen Sorgen bezüglich der EU diesen Politikfeldern?
Kulturkrieg ist ein sehr starkes Wort. Aber ganz sicher haben wir auf diesen Gebieten heute deutliche Differenzen. Ich finde, der Respekt für die Vielfalt sollte auch umfassen, dass man die Besonderheit jeder Kultur in den Mitgliedsländern akzeptiert. Das gehört zu den Grundlagen
der EU. Die Polen sehen vieles anders als die Deutschen oder Franzosen, und die Deutschen unterscheiden sich von den Spaniern. Als Regierung, die die Polen vertritt, suche ich Garantien dafür, dass die Besonderheit Polens respektiert wird.
Sollten Polen und Ungarn ihr Veto aufrechterhalten, könnte die Mehrheit der EU-Länder einen Corona-Aufbaufonds ohne sie einrichten, und Polen könnte Milliarden Euro verlieren. Was sagen Sie ihren Wählern dazu?
Wir kämpfen dafür, dass keinem Land, weder heute noch morgen, aufgrund eines willkürlichen und intransparenten Mechanismus Mittel gestrichen werden. Das ist eine Frage des grundlegenden Vertrauens, das sich auf europäisches Recht stützt. Wir dürfen nicht zulassen, dass neben dem guten Corona-Fonds schlechte Regelungen durchkommen, die für die gesamte EU potentiell sehr zerstörerisch sind.
Gibt es jetzt noch Raum für einen Kompromiss?
Jeder Euro aus EU-Mitteln muss korrekt ausgegeben werden. Nebenbei gesagt, von jedem Euro, den Polen von der EU erhält, wandern 75 Cent zurück nach Deutschland, nach Westeuropa, zu Hunderten Firmen wie Siemens und Hochtief, die hier Aufträge abwickeln. Korruption und Zweckentfremdung von EU-Mitteln darf es nicht geben. Bei der Bekämpfung von Korruption ist meine Regierung übrigens sehr erfolgreich gewesen.
Wäre es ein guter Kompromissvorschlag, das seit Jahren laufende Artikel- 7-Verfahren zur Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn im Europäischen Rat zur Abstimmung zu stellen und diese Sache damit abzuschließen?
Ja. Es ist gut, sich an seine eigenen Prinzipien zu halten. Versuchen wir doch zunächst mal, ob das Artikel-7-Verfahren greift oder nicht.
Die Präsidentschaft Donald Trumps war für den Westen eine Zeit der Irritation und Unsicherheit. Jetzt ist wohl genug Zeit vergangen, um Sie zu fragen: Freuen Sie sich über den Sieg Joe Bidens?
Polen und die Vereinigten Staaten verbinden beiderseitige Sympathie, die Werte, etwa die Liebe zur Freiheit, aber auch gemeinsame Interessen. Das ist ein dauerhaftes Bündnis. Ich bin sicher, dass sich die Zusammenarbeit mit Präsident Biden genauso gut entwickeln wird wie die bisherige.