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Seit drei Jahrzehnten «back on track» - die Visegrád-Gruppe wird 30

17.02.2021

Als Polen am 1. Juli 2020 den rotierenden Vorsitz in der Visegrád-Gruppe (Slowakei, Tschechien, Ungarn, Polen - kurz «V4») inmitten einer Pandemie übernahm, wurde «Back on track» («Wieder auf Kurs») als Motto der einjährigen Präsidentschaft gewählt. Man meinte damit die Rückkehr zur Normalität und den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach einem baldigen, so die Hoffnung damals, Ende der gesundheitlichen Krise. Darauf sollte sich die Zusammenarbeit der vier mitteleuropäischen Staaten, die als V4 eng zusammenarbeiten, 2020/2021 konzentrieren.

Back on track

Botschafterin Iwona Kozłowska zu 30 Jahren der V4


 

Wenn man sich aber anlässlich des 30. Jubiläums der Visegrád-Gruppe rückblickend ihre Geschichte anschaut, so erkennt man, dass dieses Motto eigentlich auf die ganzen drei Jahrzehnte hervorragend passt. Die Kernidee der Zusammenarbeit von Slowakei, Tschechien, Ungarn und Polen war ja vom Anfang an die Förderung der Rückkehr nach Europa und die Aufhebung der durch über 40 Jahre Kommunismus verursachten Entfremdung ihrer Volkswirtschaften, Gesellschaften, Institutionen. Ein großes historisches und zivilisatorisches «Back on track».

Historische Wurzeln

Am 15. Februar 1991 trafen sich auf der mittelalterlichen Burg in der ungarischen Stadt Visegrád die Präsidenten der Tschechoslowakei und Polen sowie der Ministerpräsident Ungarns. Dieser Gipfel knüpfte an zwei Treffen der Könige von Böhmen, Polen und Ungarn über 650 Jahre früher (in den 1330er Jahren) an dem selben Ort an. Die historischen Wurzeln der engen Zusammenarbeit in der Region reichen sehr tief. 

Bereits der erste urkundlich belegte Herrscher Polens heiratete eine böhmische Prinzessin namens Dubrawka, im Mittelalter waren die Länder der heutigen Visegrád-Gruppe mehrmals durch gemeinsame Monarchen in Personalunion. Im «langen 19. Jahrhundert» waren sie alle (Polen nur zum Teil) unter habsburgischer Herrschaft. Aus dem Freiheitswillen entstand eine Schicksalsgemeinschaft der heutigen Visegrád-Gruppe, die auch durch die Schweiz unterstützt wurde. Als 1868 am Ufer des Zürichsees in Rapperswil die berühmte Polnische Freiheitssäule (Kolumna Barska) feierlich enthüllt wurde, waren auch tschechische und ungarische Gäste dabei. Während des Banketts im feinsten Rapperswiler Hotel «Zum Schwanen» wurden u.a. aus Prag und Budapest zugeschickte Gratulationsschreiben vorgelesen. Der an den Feierlichkeiten teilnehmende General Perczel, ein Veteran der Ungarischen Revolution von 1848, erzählte von polnischer Unterstützung für die ungarischen Aufständischen. Mit ähnlicher Begeisterung hat man in den Ländern der heutigen Visegrád-Gruppe auf die Eröffnung des Polenmuseums auf Schloss Rapperswil zwei Jahre später reagiert. 

Auch die sich unter kommunistischer Diktatur befindenden Polen, Slowaken, Tschechen und Ungarn verband ein gemeinsames Bestreben nach Freiheit. In den späten 1970er Jahren begannen heimliche Treffen und Besprechungen der polnischen und tschechoslowakischen Opposition im Riesengebirge. In den 1980er Jahren ging daraus die einzigartige Polnisch-Tschechisch-Slowakische Solidaritätsgemeinschaft hervor – ein grenzüberschreitendes Bündnis der antikommunistischen Dissidenten.

Gemeinsam in die EU und NATO

1991 haben die in Visegrád versammelten Staats- und Regierungschefs beschlossen gemeinsam nach Lösungen für die sehr ähnlichen Probleme postkommunistischer Länder in einem schwierigen Transformationsprozess zu suchen sowie gemeinsam den EU- und NATO-Beitritt anzustreben. Ein sehr ehrgeiziges «Back on track»-Programm, wenn man bedenkt, wie ungünstig die Ausgangslage gewesen ist: neben der schweren Wirtschaftskrise war die geopolitische Umgebung alles andere als stabil und sicher (die Sowjetunion existierte ja noch im Februar 1991, ihre Truppen waren damals noch in allen Visegrád-Staaten stationiert!), die grundlegenden Institutionen einer Marktwirtschaft fehlten (nur Budapest hatte zu diesem Zeitpunkt eine Wertpapierbörse, und das auch erst seit ein paar Monaten).

Doch die unternehmerischen und tüchtigen Bürgerinnen und Bürger der vier Nachbarländer haben den historischen Schritt in die europäische und transatlantische Zukunft gewagt und geschafft. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei, 2004 folgte ihnen die Slowakei. In demselben Jahr feierte die ganze Visegrád-Gruppe den gemeinsamen Beitritt zur Europäischen Union, drei Jahre später wurden die vier Staaten Mitglieder der Schengen-Zone.

Die Visegrád-Dynamik

Wirtschaftlich ist die V4 zweifelsohne eine Erfolgsgeschichte. In den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hat sich das BIP pro Kopf ungefähr verdoppelt (für alle 27 EU-Mitgliedstaaten betrug der Zuwachs in dieser Periode etwa 20%). 2019 lagen die Wachstumsraten in der Visegrád-Gruppe um 0,8 bis 3,1 Prozentpunkte über dem Wert für die ganze EU, 2018 war dieser Vorsprung noch klarer: 1,2 bis 3,4 Prozentpunkte. 2019 war die Visegrád-Gruppe der mit Abstand wichtigste Handelspartner Deutschlands, mit einem Umsatz von über 300 Mrd. Euro, d.h. 50% mehr als China oder die USA, fast doppelt so viel wie Frankreich, 2,5-mal so viel wie Großbritannien und mehr als das Fünffache des deutschen Handels mit Russland. Auch unter den äußerst schwierigen Bedingungen der durch die Pandemie hervorgerufenen Wirtschaftskrise zeigen sich die V4-Länder sehr robust. Wie man den neuesten Daten des Eurostat entnehmen kann, liegt bei allen Vier die Arbeitslosenquote unter dem EU-Durchschnittsniveau, von den vier EU-Mitgliedstaaten mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit gehören drei der Visegrád-Gruppe.  

Die Ländergruppe V4 leistet also einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas, zum Aufbau des europäischen Wohlstands und zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des «Alten Kontinents». Aber auch politisch sind die Polen, Tschechien, Slowaken und Ungarn in der Europäischen Union sehr aktiv, denn die EU ist für sie die bei weitem wichtigste Plattform der Zusammenarbeit und Koordination. Die Visegrád-Gruppe ist nämlich keine Organisation und hat auch, bis auf den 2000 gegründeten Visegrád-Fonds, keinerlei institutionalisierte Gestalt genommen. Sie ist also viel weniger formalisiert als Benelux, mit der sie oft verglichen wird. 

Visegrád+

Durch Mitgestaltung der Brüsseler Politiken kann die V4 auch auf das globale Geschehen einen gewissen Einfluss nehmen und sich auf ihre unmittelbare Nachbarschaft auswirken. So unterstützt der Visegrád-Fonds finanziell zahlreiche Projekte in den Ländern der Östlichen Partnerschaft sowie auf dem Westbalkan. Es geht hier aber um viel mehr als Geld, denn der Visegrád-Gruppe ist es wichtig diese Fokusregionen enger an die EU zu binden, ihre europäischen Ambitionen zu fördern und durch Verbreitung eigener Erfahrungen und Erfolgsrezepte zu stärken, zumal man in den V4-Ländern die Probleme und Herausforderungen Osteuropas und Westbalkans sehr gut verstehen kann (man hat diese ja selbst überwinden müssen).

Die Visegrád-Zusammenarbeit ist vielseitig und vielfältig. Sie umfasst so viele Gebiete, dass es kaum möglich wäre sie alle hier aufzulisten. Als Beispiele kann man die sog. Vernetzbarkeit (connectivity), Digitalisierung sowie Kultur-, Bildungs- und Forschungsaustausch nennen. Die verschiedenen Projekte und Initiativen haben eins gemeinsam: sie dienen der Förderung der inneren Kohäsion der  Visegrád-Gruppe sowie der Kohäsion der gesamten EU. Dabei sind sie in gemeinsamen Erfahrungen und Wertevorstellungen der Polen, Slowaken, Tschechen und Ungarn verwurzelt, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch äußeren Zwang und fremde Gewalt im Abseits der europäischen Völkergemeinschaft befanden. Die Gründung der Visegrád-Gruppe vor 30 Jahren war ein Zeichen der beginnenden Rückkehr auf den europäischen Weg. Freies und vereintes Europa war das lang ersehnte gemeinsame Ziel, obwohl man Europa immer angehört hat. Nun, nach drei Jahrzehnten mühsamer, harter Arbeit sind wir wieder «back on track».  

 

Iwona Kozłowska, Botschafterin der Republik Polen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und im Fürstentum Liechtenstein

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