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Rede von Premierminister Mateusz Morawiecki vor dem Europäischen Parlament

19.10.2021

Statement by Prime Minister Mateusz Morawiecki in the European Parliament.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

Sehr geehrte Frau Vorsitzende,

Meine Damen und Herren Abgeordnete,

Ich stehe heute vor Ihnen im Parlament, um unseren Standpunkt zu einigen grundlegenden Fragen darzulegen, die ich für die Zukunft der Europäischen Union für entscheidend halte. Nicht nur für die Zukunft Polens, sondern auch für die Zukunft unserer gesamten Union.

Erstens möchte ich auf die Krisen eingehen, mit denen Europa aktuell konfrontiert ist, und mit denen wir uns befassen müssen.

Zweitens werde ich über Standards und Regeln sprechen, die immer und für alle gleich sein müssen – und darüber, dass dies zu oft nicht der Fall ist.

Drittens werde ich unsere Sicht auf die Grundsätze darlegen, laut derer kein öffentliches Verwaltungsorgan Maßnahmen tätigen darf, für die keine Rechtsgrundlage existiert.

Der vierte Punkt meiner Rede wird das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts betreffen – und die Frage, was dieses und andere ähnliche Urteile für die EU bedeuten. Und ich werde betonen, wie wichtig Vielfalt und gegenseitiger Respekt sind.

Im fünften Punkt werde ich unseren Standpunkt zum verfassungsrechtlichen Pluralismus erläutern.

Und anschließend möchte ich die gewaltigen Risiken für die gesamte Gesellschaft thematisieren, die sich aus der Anwendung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union ergeben und die sich in Polen bereits materialisieren.

Zum Schluss werde ich alle Schlussfolgerungen zusammenfassen und einen, wie ich glaube, hoffnungsvollen Blick in die Zukunft wagen.

Ich beginne mit einer grundlegenden Frage – mit den Herausforderungen, die für unsere gemeinsame Zukunft von entscheidender Bedeutung sind. Sehr verehrtes Parlament, soziale Ungleichheiten, die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten, die alle Bürger Europas belasten, die steigende Staatsverschuldung, die illegale Migration und die Energiekrise, die die Herausforderungen der Klimapolitik noch größer werden lässt, spiegeln sich in sozialen Unruhen wider und verlängern den Katalog der massiven Probleme.

Die Schuldenkrise hat erstmals nach dem Krieg die Frage aufgebracht, ob wir in der Lage sein werden, den nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.

Rund um unsere Grenzen wird es immer unruhiger. Im Süden hat der Ansturm von Millionen von Menschen den Mittelmeerraum in den Schauplatz einer Tragödie verwandelt. Im Osten haben wir es mit der aggressiven Politik Russlands zu tun, das sogar Kriege nicht scheut, um den Ländern in unserer Nachbarschaft die Wahl des europäischen Wegs zu blockieren.

Aktuell stehen wir an der Schwelle einer gewaltigen Gas- und Energiekrise. Abrupt steigende Preise, die u.a. auf vorsätzliche Handlungen russischer Konzerne zurückzuführen sind, stellen bereits heute zahlreiche Unternehmen in Europa vor die Entscheidung, entweder die Produktion herunterzufahren oder die Kosten auf die Verbraucher umzulegen. Das Ausmaß dieser Krise könnte Europa bereits in den kommenden Wochen erschüttern. Viele Unternehmen können insolvent werden und Millionen von Haushalten, Dutzende Millionen von Menschen, werden durch die Gaskrise im Zuge unkontrollierter Kostenanstiege in ganz Europa möglicherweise in Armut und Not getrieben. Auch mit dem Risiko eines Dominoeffekts muss gerechnet werden – eine Krise kann eine Kettenreaktion weiterer Einbrüche nach sich ziehen.

Ich spreche in der Wir-Form, da keine dieser Angelegenheiten im Alleingang erledigt werden kann. Nicht jedes der Probleme betrifft mein Land in einem derart dramatischen Ausmaß, wie andere Länder der Europäischen Union. Dies ändert aber nichts daran, dass ich all diese Schwierigkeiten als „unsere Probleme“ ansehe.

Nun möchte ich einige Worte über den Beitrag Polens zu unserem gemeinsamen Projekt sagen.

Die europäische Integration stellt für uns eine zivilisatorische und strategische Entscheidung dar. Wir sind in Europa, hier ist unser Platz und das wird sich auch nicht ändern. Wir möchten Europa wieder zu einer starken, ambitionierten mutigen Gemeinschaft machen. Deshalb beschränken wir uns nicht auf kurzfristige Vorteile, sondern sehen auch das, was wir Europa geben können.

Polen profitiert von der Integration vor allem durch den Handel im Rahmen des gemeinsamen Binnenmarktes. Technologietransfers und Direkttransfers spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Aber Polen ist der Union nicht mit leeren Händen beigetreten. Die wirtschaftliche Integration Polens erweiterte die Möglichkeiten für Firmen aus meinem Land, eröffnete aber auch deutschen, französischen oder niederländischen Unternehmen riesige Chancen. Unternehmer aus diesen Ländern profitieren in großem Umfang von der EU-Erweiterung.

Hier genügt es, den gewaltigen Abfluss von Dividenden, Zinseinnahmen und Gewinnen aus anderen Finanzinstrumenten aus den weniger wohlhabenden mitteleuropäischen Ländern in die reicheren Länder in Westeuropa zu betrachten. Wir hingegen wollen, dass es bei dieser Zusammenarbeit keine Verlierer gibt, sondern ausschließlich Gewinner.

Polen hat sich für einen ehrgeizigen Aufbaufonds stark gemacht, um die heutige Antwort auf die Herausforderungen der Transformation in den Bereichen Klima, Energie und Pandemiefolgen an die realen Bedürfnisse anzupassen. Um ein starkes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, das Millionen von Kindern, Frauen und Männern Mut macht und sie der Globalisierung nicht hilflos ausliefert. In diesen Fragen stimmten wir mit dem Europäischen Parlament voll und ganz überein.

Polen unterstützt den europäischen Binnenmarkt tatkräftig. Wir wollen eine strategische Autonomie, die unsere 27 Länder stärkt.

Deshalb setzen sich Polen, Deutschland, Tschechien und andere mitteleuropäische Staaten für Lösungen ein, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Geiste der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten stärken: Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit. Und zwar ohne die Unterstützung sogenannter Steuerparadiese, wie dies noch immer seitens einiger westeuropäischer Länder geschieht, und zwar zum Nachteil ihrer Nachbarn. Ja, meine verehrten Damen und Herren Abgeordnete: Steuerparadiese, die wir in der EU dulden, führen zur Aneignung von Geldern durch die Reichsten. Ist dies gerecht? Hilft dies, das Schicksal der Mittelklasse oder der ärmeren Schichten zu verbessern? Ist dies konform mit dem europäischen Wertekatalog? Ich habe große Zweifel.

Polen setzt sich zusammen mit dem Rest Mitteleuropas auch für eine ehrgeizige EU-Erweiterungspolitik ein, die Europa in der Westbalkanregion stärkt. Dies verstehen wir als geografische, historische und strategische Ergänzung der europäischen Integration. Wir sagen ja zu globalen Ambitionen der Union und sprechen uns für eine starke europäische Verteidigungspolitik aus, mit einer Struktur, die mit der NATO vollumfänglich kohärent ist.

Aktuell sind wir Zeugen eines organisierten Angriffs an der Ostgrenze der Union, der die Migration aus dem Nahen Osten zynisch zur Destabilisierung missbraucht. Und heute ist Polen der Sicherheitsgarant der EU, indem wir gemeinsam mit Litauen und Lettland wir ein Schutzschild zur Verteidigung der Grenze bilden. Und durch die Stärkung unseres Verteidigungspotenzials verbessern wir auch die Sicherheit der Union, im traditionellsten Sinne dieses Worts.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich den polnischen, litauischen und lettischen Grenzschützern sowie allen südeuropäischen Ländern und unseren polnischen Grenzbeamten und Soldaten für den engagierten und professionellen Schutz der EU-Außengrenzen danken…

Sicherheit hat zahlreiche Dimensionen. Aktuell spüren wir alle die Folgen der steigenden Gaspreise. Und es wird eindeutig klar, welche Folgen kurzsichtiges Handeln in Sicherheitsfragen haben kann. Bereits heute spiegeln sich die Politik von Gazprom und die Zustimmung zu Nord Stream 2 in rekordverdächtigen Gaspreisen wider.

Während heute in den Gründungsstaaten der Gemeinschaft das Vertrauen zur Union auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist (z.B. 36% in Frankreich), bleibt dieser Wert in Polen auf einem Höchststand. Über 85% der polnischen Bürger sagen klar: Polen ist EU-Mitglied und wird dies auch bleiben. Meine Regierung und die parlamentarische Mehrheit, die hinter uns steht, ist Teil dieser proeuropäischen Mehrheit in Polen.

Dies bedeutet nicht, dass in Polen keine Zweifel und Sorgen bezüglich der Änderungstrends in Europa existieren. Diese Sorgen gibt es, und sie sind leider auch begründet.

Ich habe eben davon gesprochen, wie viel Polen in die EU eingebracht hat. Aber leider hören wir noch immer von einer Einteilung in bessere und schlechtere Länder. Zu oft haben wir es mit einem Europa der doppelten Standards zu tun. Und jetzt möchte ich erläutern, warum wir mit diesem Modell abschließen müssen.

Heute erwarten alle Europäer nur eines von uns. Die Menschen wollen, dass wir den Herausforderungen die Stirn bieten, die für die aktuell kumulierten Krisen verantwortlich sind. Gemeinsam und nicht gegeneinander, ohne die zwanghafte Suche nach Schuldigen – oder eher jenen, die in Wirklichkeit zwar keine Schuld tragen, sich aber bequem beschuldigen lassen.

Leider stellen sich viele Bürger unseres Kontinents angesichts einiger Praktiken in den EU-Institutionen heute die Frage, ob vor dem Hintergrund extrem unterschiedlicher Urteile und Entscheidungen aus Brüssel und Luxembourg gegenüber verschiedenen Mitgliedsstaaten, die unter vergleichbaren Umständen fallen und damit die Gegensätze zwischen dem starken, alten und neuen Europa, starken und schwachen Ländern, reichen und weniger reichen Staaten de facto vertiefen, tatsächlich von Gleichberechtigung gesprochen werden kann?

Vorzutäuschen, dass Probleme nicht existieren, hat sehr schlimme Folgen. Die Bürger sind nicht blind und taub. Wenn selbstzufriedene Politiker und Beamte dies nicht merken, büßen sie das Vertrauen der Gesellschaft nach und nach ein. Und damit werden auch die Institutionen unglaubwürdiger. Und dies geschieht bereits, verehrtes Parlament.

Politik muss auf bestimmten Grundsätzen basieren. Der oberste Grundsatz, dem wir uns in Polen verpflichten, und der auch einer der Grundpfeiler der Europäischen Union ist, heißt Demokratie. Deshalb können wir nicht schweigen, wenn unser Land – auch in diesem Saal – in ungerechter und voreingenommener Weise angegriffen wird.

Die Spielregeln müssen für alle gleich sein. Zu ihrer Einhaltung sind wir alle verpflichtet – auch die Institutionen, die kraft dieser Verträge ins Leben gerufen wurden. Darauf beruht Rechtsstaatlichkeit.

Die Ausweitung von Kompetenzen oder die Methode der vollendeten Tatsachen ist unzulässig. Unzulässig ist auch, anderen eigene Entscheidungen ohne Rechtsgrundlage aufzuzwingen. Und umso mehr ist es unzulässig, zu diesem Zweck finanzielle Erpressung anzudrohen, Strafen ins Spiel zu bringen oder noch weitergehende Worte gegenüber einigen Mitgliedsstaaten zu verwenden.

Ich lehne eine Sprache ab, in der Drohungen, Warnungen und Erpressungen dominieren. Und ich bin nicht damit einverstanden, dass Politiker Polen erpressen oder einschüchtern. Dass Erpressungen zu einer politischen Methode gegenüber anderen EU-Mitgliedsstaaten werden. So funktioniert Demokratie nicht.

Wir sind ein stolzes Land. Polen ist eines der Länder mit der längsten Geschichte der Staatlichkeit und demokratischen Entwicklung. Im 20. Jahrhundert haben wir drei Mal unter großen Verlusten für die Freiheit Europas und der Welt gekämpft. Im Jahr 1920, als wir Berlin und Paris vor dem Überfall der Bolschewiken retteten, später 1939, als wir als Erste in den mörderischen Kampf mit den Deutschen – dem III. Reich – zogen, was Folgen für den weiteren Verlauf des Kriegs hatte – und schließlich im Jahr 1980, als die „Solidarność” Hoffnung auf den Sturz eines weiteren totalitären Systems brachte – des grausamen kommunistischen Regimes. Der Wiederaufbau Europas in den Nachkriegsjahren wurde durch die Aufopferung vieler Völker möglich, aber nicht alle konnten davon profitieren.

Sehr verehrte Abgeordnete. Nun einige Worte zum Thema Rechtsstaatlichkeit. Über die Rechtsstaatlichkeit lässt sich viel sagen, und jeder versteht den Begriff ein wenig anders. Aber ich bin überzeugt, dass die meisten von uns mit mir einer Meinung sind, dass von Rechtsstaatlichkeit ohne das Vorliegen bestimmter Prämissen keine Rede sein kann. Ohne Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte und Einhaltung des Prinzips der beschränkten Kompetenzen von Behörden, und ohne die Anerkennung der Hierarchie der Rechtsquellen.

EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht – bis zur Gesetzesebene und in den Bereichen, in denen der EU entsprechende Kompetenzen übertragen wurden. Dieser Grundsatz gilt in allen EU-Ländern. Die Verfassung aber bleibt das ranghöchste Recht.

Wenn die kraft der EU-Verträge berufenen Institutionen ihre Kompetenzen überschreiten, müssen die Mitgliedsstaaten Instrumente haben, um reagieren zu können.

Die Union ist eine große Errungenschaft der Länder Europas. Sie ist ein starker wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Bund. Sie ist die stärkste und am besten entwickelte internationale Organisation in der Geschichte. Aber die Europäische Union ist kein Staat. Staaten sind dagegen die 27 Mitgliedsländer der Union!  Und diese Staaten bleiben der europäische Souverän – als „Herren der Verträge“. Und die Staaten sind es auch, die über den Umfang der an die Europäische Union übertragenen Kompetenzen entscheiden.

In den Verträgen haben wir der Union sehr weitreichende Kompetenzen verliehen. Aber wir haben ihr nicht alle Aufgaben übertragen. Viele Rechtsbereiche bleiben in der Kompetenz der Nationalstaaten.

Wir haben keine Zweifel bezüglich des Vorrangs des europäischen Rechts vor nationalen Gesetzen in allen Bereichen, in denen die Mitgliedsstaaten der Union entsprechende Kompetenzen übertragen haben.

Allerdings stellt das polnische Verfassungsgericht ähnlich wie Gerichtshöfe in vielen anderen Ländern die Frage, ob das Monopol des Europäischen Gerichtshofs zur Festlegung der tatsächlichen Grenzen dieser Kompetenzübertragung die richtige Lösung ist. Da dieser Bereich das Verfassungsrecht berührt, muss es jemanden geben, der die Verfassungsgemäßheit derartiger eventueller neuer Kompetenzen überprüft, insbesondere in einer Situation, in der der Europäische Gerichtshof immer weitreichendere Kompetenzen der EU-Institutionen aus den Verträgen ableitet.

Ansonsten wäre es sinnlos gewesen, Artikel 4 in den Vertrag über die Europäische Union aufzunehmen, der von der Anerkennung der politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten durch die Union spricht. Es wäre auch sinnlos gewesen, Artikel 5 in den Vertrag aufzunehmen, laut dem die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen und zuerkannten Kompetenzen tätig werden darf. Beide Artikel wären sinnesleer, ja, sinnesleer!, wenn außer dem Europäischen Gerichtshof niemand das Recht hätte, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bedingungen der nationalen Rechtsordnung das Wort zu ergreifen.

Mir ist bewusst, dass das kürzlich ergangene Urteil des polnischen Verfassungsgerichts Gegenstand eines grundlegenden Missverständnisses geworden ist. Wenn ich hören würde, dass das Verfassungsgericht eines anderen Landes die EU-Verträge für ungültig erklärt, wäre ich ebenfalls verwundert. Aber vor allem würde ich versuchen in Erfahrung zu bringen, was genau im Urteil des Gerichts steht.

Und auch aus diesem Grund habe ich darum gebeten, in der heutigen Debatte das Wort ergreifen zu dürfen. Um Ihnen zu erklären, was in Wirklichkeit Gegenstand dieses Streits ist. Und zwar geht es nicht um aus politischen Gründen erfundene Märchen über einen „Polexit“ oder Lügen bezüglich einer angeblichen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips.

Deshalb möchte ich im nächsten Teil meiner Rede Fakten präsentieren. Dafür ist es am besten, einige Zitate heranzuziehen:

  • In der nationalen Rechtsordnung gilt der Vorrang des EU-Rechts nicht für die Normen der Verfassung – die Verfassung selbst steht an der Spitze des nationalen Rechtssystems.
  • Das Vorrangsprinzip des Gemeinschaftsrechts (…) kann die oberste Rechtskraft der Verfassung innerhalb der nationalen Rechtsordnung nicht in Frage stellen.
  • Das Verfassungsgericht kann eine Ultra-Vires-Kontrolle durchführen (…) und bestimmen, ob die Maßnahmen eines Organs der Union gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen, wenn Institutionen, Gremien, Organe und Agenden der Union ihren Kompetenzbereich in einer Weise überschreiten, die gegen diesen Grundsatz verstößt.
    Im Zuge einer solchen Entscheidung werden Ultra-Vires-Rechtsakte auf dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates nicht angewandt.
  • Die Verfassung verbietet die Übertragung von Kompetenzen in einem Umfang, der bedeuten würde, dass [der Staat] nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat anzusehen wäre.

Einige weitere Zitate werde ich übergehen, um Ihnen nicht zu viel Zeit zu stehlen. Ich lese noch die zwei letzten vor.

  • Die Verfassung ist der höchste Rechtsakt in Polen in Bezug auf alle für Polen geltenden internationalen Verträge, einschließlich Verträgen über die Kompetenzübertragung in bestimmten Angelegenheiten. Der Verfassung kommt der Geltungs- und Anwendungsvorrang auf dem Hoheitsgebiet Polens zu.

Und das letzte Zitat:

  • Die Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Union darf nicht gegen das Prinzip des Vorrangs der Verfassung verstoßen und den Vorschriften der Verfassung nicht zuwiderlaufen.

Ich sehe Erregung in Ihren Gesichtern. Ich verstehe, dass Sie hier im Saal zumindest zum Teil nicht meiner Meinung sind. Leider verstehe ich aber nicht, warum. Die Zitate betreffen nämlich Entscheidungen des französischen Verfassungsrats, des dänischen Obersten Gerichtshofs und des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Zitate der italienischen und spanischen Gerichte habe ich ausgelassen.

Und die Zitate des polnischen Verfassungsgerichts betreffen die Jahre 2005 und 2010. Und demnach bereits die Zeit nach dem polnischen EU-Beitritt. Die Doktrin, die wir heute verteidigen, ist bereits seit Jahren gefestigt.

An dieser Stelle lohnt es sich auch, Prof. Marek Safjan zu zitieren, seines Zeichens ehemaliger Vorsitzender des polnischen Verfassungsgerichts und aktuell Richter am Europäischen Gerichtshof: „Vor dem Hintergrund der geltenden Verfassung existiert keine Prämisse für die These des Vorrangs des Gemeinschaftsrecht vor der kompletten nationalen Rechtsordnung, einschließlich der Verfassungsnormen. Es gibt keine Prämisse! Entsprechend des Wortlauts der Verfassung ist diese das oberste Recht der Republik Polen (Art. 8 Abs. 1). Die bereits oben erläuterte Regelung von Art. 91 Abs. 2 sieht im Falle der Unvereinbarkeit mit einer Gesetzesnorm expressis verbis den Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift vor. Dies gilt jedoch nicht bei der Unvereinbarkeit mit einer Verfassungsnorm.“

Diese Sichtweise nationaler Verfassungsgerichte ist nichts Neues. Ich könnte an dieser Stelle dutzende weitere Entscheidungen aus Italien, Spanien, Tschechien, Rumänien, Litauen und weiteren Ländern zitieren.

Ich höre auch Stimmen, wonach einige dieser Urteile andere Angelegenheiten mit geringerer Bedeutung betrafen. Ja, jedes Urteil betrifft natürlich eine andere Thematik. Aber, um Himmels willen, alle haben doch eines gemeinsam: sie bestätigen, dass die nationalen Verfassungsgerichte ihr Kontrollrecht anerkennen. Kontrollrecht! Nur so viel und nichts darüber hinaus! Das Recht zur Kontrolle, ob Rechtsakte der EU im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen angewandt wird.

Und nun möchte ich einige Sätze zur Europäischen Union als Raum des verfassungsrechtlichen Pluralismus sagen.

Verehrtes Parlament! Es gibt unter uns Länder, in denen kein Verfassungsgericht existiert, während in anderen derartige Spruchkörper funktionieren. Es gibt Länder, in denen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in die Verfassung aufgenommen wurde, und andere, in denen dies nicht der Fall ist. Es gibt Länder, in denen die Richter von demokratisch gewählten Politikern gewählt werden und andere, in denen sie von anderen Richtern gewählt werden.

Der Begriff verfassungsrechtlicher Pluralismus bedeutet, dass es zwischen uns und unseren Justizsystemen Raum für Dialog gibt. Dieser Dialog erfolgt auch mittels Richterentscheidungen. Wie sonst sollten sich Gerichte verständigen, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Es darf jedoch keine Zustimmung zur Erteilung von Anweisungen und Befehlen an einzelne Länder geben. Das ist nicht das Wesen der Europäischen Union.

Wir haben vieles gemeinsam und möchten noch mehr gemeinsam haben – aber es gibt auch Unterschiede zwischen uns. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir uns mit der Existenz dieser Unterschiede abfinden, sie akzeptieren und einander respektieren.

Die Union wird nicht deshalb zerfallen, weil unsere Rechtssysteme unterschiedlich sind. Wir funktionieren bereits seit 70 Jahren auf diese Weise. Vielleicht werden wir in Zukunft Änderungen vornehmen, die unsere Gesetzgebung noch weiter angleichen. Aber dafür sind Entscheidungen der souveränen Mitgliedsstaaten erforderlich.

Heute können wir zwischen zwei Standpunkten wählen: entweder nehmen wir alle über das Recht und die Verträge hinausgehenden Versuche zur Beschränkung der Souveränität der Staaten Europas (darunter auch Polens) hin und lassen die schleichende Kompetenzerweiterung von Organen wie dem Europäischen Gerichtshof gewähren, d.h. eine „stille Revolution“, die nicht auf Grundlage demokratischer Entscheidungen, sondern mit Hilfe von Gerichtsurteilen erfolgt – oder wir sagen: „Nein, meine Lieben“! Wenn Ihr aus Europa einen supranationalen Superstaat machen wollt, dann holt gefälligst zuerst die Zustimmung aller Länder und Gesellschaften Europas ein.

Ich wiederhole es noch einmal: das oberste Recht der Republik Polen ist die Verfassung. Sie hat Vorrang vor anderen Rechtsquellen. Von diesem Grundsatz kann kein polnisches Gericht, kein polnisches Parlament und keine polnische Regierung abweichen.

An dieser Stelle ist aber auch zu betonen, dass das polnische Verfassungsgericht nie festgestellt hat – auch nicht im kürzlich ergangenen Urteil – dass die Vorschriften des Vertrags über die Europäische Union als Ganzes gegen die polnische Verfassung verstoßen. Ganz im Gegenteil! Polen hält sich vollumfänglich an die Verträge.

Und genau deshalb hat das polnische Verfassungsgericht geurteilt, dass eine sehr konkrete Auslegung einiger Vorschriften des Vertrags verfassungswidrig ist, die sich aus der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt.

Um dies zu verdeutlichen möchte ich nun zum nächsten Teil meiner Rede übergehen: zu den Bedrohungen für das gesamte Gesellschaftssystem, falls der Status eines Richters durch einen anderen Richter in Frage gestellt wird.

Also: laut der Interpretation des Gerichtshofs in Luxembourg wären Richter polnischer Gerichte zur Anwendung des Vorrangsprinzips des EU-Rechts nicht nur im Verhältnis zu nationalen Vorschriften mit Gesetzesrang verpflichtet – was keine Zweifel schürt – sondern auch zum Verstoß gegen die Verfassung und die Urteile des eigenen Verfassungsgerichts.

Die Übernahme dieser Interpretation könnte in der Konsequenz dazu führen, dass Millionen von Urteilen polnischer Gerichte aus den letzten Jahren willkürlich angefochten werden und tausende von Richtern ihres Amtes enthoben werden können. Millionen von Urteilen! Dies würde den Prinzipien der Unabhängigkeit und Unkündbarkeit sowie der Stabilität und Sicherheit des Rechts auf Gerichtsbarkeit zuwiderlaufen, die sich direkt aus der polnischen Verfassung ergeben. Ist Ihnen klar, wozu derartige Entscheidungen führen können? Wollen Sie tatsächlich Anarchie, Chaos und Rechtlosigkeit in Polen?

Die Konsequenz wären eine grundsätzliche Verschlechterung des verfassungsrechtlichen Standards des Gerichtsschutzes für die polnischen Bürger und ein unvorstellbares Rechtschaos.

Einer solchen Auslegung kann kein souveräner Staat zustimmen. Eine Zustimmung würde bedeuten, dass die Union kein Bund freier, gleicher und souveräner Länder mehr wäre, sondern sich stattdessen mit der Methode der vollendeten Tatsachen in einen zentral verwalteten, parastaatlichen Organismus verwandeln würde, dessen Organe den einzelnen „Provinzen“ aufzwingen können, was sie für angemessen halten. Dem haben wir nie zugestimmt.

Dies haben wir in den Verträgen so nicht vereinbart.
Mit Sicherheit lohnt sich eine Debatte darüber, ob die Union verändert werden sollte. Sollte der EU-Haushalt nicht größer ausfallen? Sollen wir nicht mehr in die gemeinsame Sicherheit investieren? Sollten die Verteidigungsausgaben nicht von den Haushaltsdefizitmechanismen ausgenommen werden? Polen schlägt eben dies vor! Sollten wir unsere Fähigkeit zur Abwehr von hybriden Gefahren und Cyber-Attacken nicht verbessern? Sollen wir Investitionen in strategische Wirtschaftsbranchen nicht besser kontrollieren? Wie lässt sich die Energie- und Klimatransformation gerecht und effektiv finanzieren? Wie kann unser Entscheidungsprozess nicht effektiver werden? Was tun, damit sich unsere Bürger in der Union nicht immer stärker entfremdet fühlen?

Ich stelle diese Fragen, weil ich überzeugt bin, dass die Antworten über die Zukunft der Union entscheiden.

Über all dies sollten wir debattieren.

Und nun folgen einige Sätze zu den Grenzen der Kompetenzen der Union und ihrer Institutionen.

Wichtige Entscheidungen sollten nicht durch eine Änderung der Rechtsauslegung getroffen werden.

Der Erfolg der europäischen Integration beruhte darauf, dass das Recht von Mechanismen abgeleitet wurde, die unsere Staaten in anderen Bereichen verbanden.

Der Versuch, dieses Modell um 180 Grad zu drehen und die Integration durch Rechtsmechanismen zu erzwingen, stellt eine Abkehr von den Grundannahmen dar, die dem Erfolg der Europäischen Gemeinschaft zugrunde liegen.

Über das demokratische Defizit wird seit Jahren gesprochen. Und dieses Defizit wird immer größer. Es war jedoch noch nie so sichtbar, wie in den letzten Jahren. Immer häufiger werden im Zuge von richterlichem Aktivismus Entscheidungen hinter geschlossenen Türen gefällt, was Bedrohungen für die Mitgliedsstaaten mit sich bringt. Immer häufiger geschieht dies ohne klare Rechtsgrundlage in den Verträgen, sondern infolge einer kreativen Neuauslegung derselben. Und ohne jede Kontrolle. Und dieses Phänomen breitet sich seit Jahren aus.

Heute hat dieser Prozess Ausmaße angenommen, die es notwendig machen, „stopp“ zu sagen. Die Kompetenzen der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.

Deshalb sagen wir JA zum europäischen Universalismus und NEIN zum europäischen Zentralismus.

Ich unterwerfe mich genau wie jede und jeder einzelne von Ihnen in diesem Raum der demokratischen Kontrolle. Wir alle werden so für alle unsere Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen. Ich vertrete eine Regierung, die im Jahr 2015 gewählt wurde und zum ersten Mal in der Geschichte Polens eine eigenständige Mehrheit erreicht hat. Deshalb haben wir ein ehrgeiziges soziales Reformprogramm initiiert.

Das polnische Volk hat entschieden: in den Wahlen von 2018, 2019 und 2020 wurde unsere Regierung einer demokratischen Abrechnung unterzogen. Bei einer in der Geschichte einmalig hohen Wahlbeteiligung erhielten wir das stärkste demokratische Mandat in der Geschichte. In den vergangenen 30 Jahren hat keine Partei, keine Partei! – ein ähnliches Wahlergebnis erreicht, wie Recht und Gerechtigkeit. Und das ohne Unterstützung aus dem Ausland, ohne Unterstützung der großen Wirtschaftsakteure, und mit weniger als einem Viertel des Einflusses auf die Medien wie unsere Konkurrenten, die Polen nach 1989 organisiert haben.

Uns erreichen paternalistische Belehrungen über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und darüber, wie wir unsere eigene Heimat zu gestalten haben, dass wir falsche Entscheidungen treffen, zu unreif sind, bestraft gehören, dass unsere Demokratie angeblich „jung“ ist – all das ist ein verhängnisvoller Trend, der das Narrativ einiger Kommentatoren dominiert.

Polen hat eine lange demokratische Tradition. Und wahrhaft eine Tradition der Solidarität.

Strafen und Repressionen seitens wirtschaftlich stärkerer Länder gegenüber jenen, die noch immer mit dem Erbe ihrer Existenz auf der schlechten Seite des Eisernen Vorhangs zu kämpfen haben - dies ist kein guter Weg.

Wir alle müssen uns über die Konsequenzen im Klaren sein.

Polen hält sich an die Grundsätze der Union, lässt sich dabei aber nicht einschüchtern. Polen erwartet in dieser Angelegenheit einen Dialog.

Um den Dialogprozess zu optimieren, lohnt es sich, institutionelle Veränderungen anzuregen. Für einen langfristigen Dialog im Sinne von checks and balances könnte der Europäischen Gerichtshof um eine Kammer erweitert werden, die aus von den Verfassungsgerichten in den einzelnen Ländern delegierten Richtern besteht. Ich möchte Ihnen hiermit diesen Vorschlag unterbreiten. Die abschließende Entscheidung muss dem Demos und den Staaten vorbehalten bleiben, aber die Gerichte sollten eine Plattform zur Suche eines gemeinsamen Nenners bekommen.

Abschließend, verehrtes Parlament, müssen wir auch die Frage nach den Wurzeln der jahrhundertelangen Überlegenheit Europas beantworten. Danach, was ausschlaggebend dafür war, dass die europäische Zivilisation so mächtig wurde.

Die Geschichte liefert folgende Antwort auf diese Frage: wir wurden mächtig, weil wir der vielfältigste Kontinent auf der Welt waren. Niall Ferguson schreibt: „Die monolithischen Reiche des Orients erstickten Innovationen im Kern, während im bergigen, von Flüssen durchzogenen Westen Eurasiens zahlreiche Monarchien und Stadtstaaten kreativ rivalisierten und in ständigem Kontakt standen.“
Europa behielt also die Oberhand dank des Gleichgewichts zwischen kreativer Rivalität und Kommunikation. Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Auch heute brauchen wir sowohl das eine, als auch das andere.

Verehrtes Parlament! Ich will ein starkes und großes Europa. Ein Europa, das um Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das fähig ist, autoritären Regimen die Stirn zu bieten. Ein Europa, das auf die neusten wirtschaftlichen Rezepte setzt. Ein Europa, dass die Kultur und Tradition zu schätzen weiß, aus der es entstanden ist. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die gesamte Welt arbeitet.

Das ist eine große Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so finden die Bürger die Hoffnung auf eine bessere Welt von morgen wieder. Nur so finden sie den Willen wieder, aktiv zu werden und zu kämpfen. Dies ist eine schwierige Aufgabe. Aber lassen Sie sie uns angehen. Lassen Sie sie uns gemeinsam angehen. Lang lebe Polen, lang lebe eine Europäische Union der souveränen Nationalstaaten, lang lebe Europa, der großartigste Ort der Welt!

Vielen Dank.

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